29. April 2002

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Weitere Zerstörungen historischer Gebäude in Lhasa

Die Behörden in Lhasa haben damit begonnen, einen unter dem Schutz der UNESCO stehenden Gebäudekomplex abzureißen, der sich in der traditionellen tibetischen Altstadt nahe des Jokhang Tempels, dem historischen Stadtzentrum, befindet. Nach zuverlässigen Berichten aus Lhasa wurde dabei auch ein dreistöckiges Stadthaus, das zu diesem Komplex gehört, der gleichfalls von den Behörden in Lhasa unter Denkmalschutz gestellt wurde, beschädigt. Der Gebäudekomplex in traditioneller Bauweise steht an der Ecke von Dekyi Shar Lam (Chinesisch: Beijing Dong Lu) und Mentsikhang Lam, Straßen, die Teile des Lingkor, des traditonellen Rundwegs der Pilger um die tibetische Hauptstadt darstellen. Die drohende Zerstörung der Gebäude macht den fortschreitenden Verlust an städtischer Bausubstanz und traditionellem Charakter dieses Stadtviertels deutlich. Einige Abgeordnete der Lokalbewohner appellierten erfolglos an die örtlichen Offiziellen, um den Abriß abzuwenden, aber den Mietern des Komplexes wurde mitgeteilt, sie hätten die Gebäude innerhalb von fünf Tagen, bis spätestens 24. April, zu verlassen.

Ein westlicher Tourist, der vor wenigen Tagen noch in Lhasa war, erzählte, daß die Vorbereitungen für den Abriß der Häuser, die sich fast gegenüber des Pentoc Hotels befinden, in vollem Gange waren. "Wir sahen auf dem Gelände alle Arten von Abbrucharbeiten vor sich gehen - ich bin sicher, in zehn Tagen wird das Ganze nur noch ein einziger Schuttberg sein. In der gesamten Stadt scheinen die Abbrucharbeiten mit rasender Geschwindigkeit vor sich zu gehen." Nach einem zuverlässigen Bericht aus Lhasa soll das historische Stadthaus aus Stein und Lehmziegeln, das unter dem Namen Samding Khangsar bekannt und jetzt zum Abriß vorgeschlagen ist, durch eine Standard-Innenhofkonstruktion mit einem vierstöckigen Forderhaus in moderner Betonbauweise ersetzt werden. Der Eingang zu Samding Khangsar befindet sich in der Nähe des Yabshi Phunkhang, das jetzt als Restaurant betrieben wird, aber als Residenz für die Familie des 11. Dalai Lamas erbaut wurde und als eines der schönsten weltlichen Gebäude in Lhasa bekannt ist. Das vom Abbruch bedrohte Stadthaus war auf städtischer Ebene als schützenswert deklariert worden und gehört zu der geschützten Zone des Barkor, der von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde. Ein Sprecher der UNESCO in Paris erklärte, daß sie "sehr besorgt über die Situation" seien und "versuchen würden, den Abbruch zu verhindern, bevor er stattfindet". Die UNESCO hat bereits ihrer Besorgnis über zwei neue architektonische Entwicklungen in Lhasa Ausdruck verliehen - nämlich der Errichtung eines 37 Meter hohen Monumentes zur Erinnerung an die "friedliche Befreiung" Tibets auf dem Platz gegenüber dem Potala (siehe: http://www.tibetinfo.net/news-updates/2002/0402.htm) und eines 13stöckigen Gebäudes für das Public Security Bureau (Sicherheitsdienst) nördlich des Barkhor Pilgerpfades (siehe: http://www.tibetinfo.net/news-updates/2002/2602.htm ).

Diese beiden Konstruktionen befinden sich zwar außerhalb der Schutzzone, die durch die Aufnahme in die Liste als Weltkulturerbe besteht, aber die UNESCO hat ihrer Besorgnis deshalb Ausdruck verliehen, weil sie sich in "die städtische Bausubstanz hineindrängen" und in ihrem Rahmen als Fremdkörper wirken. Die skandinavischen Architekten Knud Larssen und Amund Sinding Larssen haben das Ausmaß der Zerstörung von alten Gebäuden in Lhasa in The Lhasa Atlas Traditional Tibetan Architecture and Townscape (Serindia Publications 2001) dokumentiert. Die Architekten berichten, daß fast zwei von drei alten Gebäuden innerhalb des Pilgerrundgangs des Lingkor (einst zählte man dort mehr als tausend davon) verschwunden sind, wobei die Abrißwelle ihren Höhepunkt Mitte der 90er Jahre erreichte.

Die Autoren stellen fest: "Moderne Gebäude werden in Lhasa mit einer selten in anderen Städten (in China) gesehenen Geschwindigkeit und Effizienz hochgezogen. Solche Geschwindigkeit, Sparsamkeit und einfache Konstruktion können neue Häuser sogar schon vor ihrer Fertigstellung heruntergekommen erscheinen lassen und von daher hatten wahrscheinlich manche in den Neunzigern erbaute Gebäude eine kurze Lebensdauer und waren nur kurzfristige Investitionen in Lhasa. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, daß die Leute heute in Teilen der Altstadt Handwerkskunst auf höchstem Stand sehen möchten."

Die Ausweisung einer europäischen Nichtregierungsorganisation, des Tibet Heritage Fund, 2000 aus Lhasa machte die Schwierigkeiten deutlich, mit denen diejenigen zu kämpfen haben, die sich in der gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Lage für die Erhaltung des kulturellen Erbes einsetzen. Der Tibet Heritage Fund, für den in Lhasa mehr als 200 Menschen arbeiteten, war mit der Restaurierung von über 70 historischen Gebäuden beschäftigt, worunter sich mehr als 1200 Jahre alte Häuser und Tempel befanden. Es gibt Berichte wonach der Tibet Heritage Fund von offiziellen Stellen beschuldigt wurde, eine Reihe von Verstößen begangen zu haben, darunter die Beschäftigung nicht zugelassener Baufirmen, die Restaurierung nicht genehmigter Stätten und die Störung der sozialen Ordnung, was von der Gruppe bestritten wurde.

Die Behörden möchten das Gebiet von Lhasa Stadt vervierfachen, d.h., von gegenwärtig 53 Quadratkilometern bis 2015 auf 272 km² ausdehnen und in den nächsten vier Jahren die städtische Bevölkerung um 30% erhöhen. Dadurch daß in Lhasa der wirtschaftlichen Entwicklung soviel Gewicht beigemessen wurde, haben die Baufirmen, wie es an der Veränderung der städtischen Landschaft zu sehen ist, wachsenden Einfluß bekommen, wobei das kulturelle Erbe von den Behörden nachrangig behandelt wird. Knud Larssen und Amund Sinding Larssen schrieben im Lhasa Atlas: "1993 billigte der Staatsrat in Peking den Lhasa-Entwicklungsplan 1980 - 2000, der sich für die Stadtentwicklung als entscheidend erwiesen hat. Der Plan definiert die Bewahrung des kulturellen Erbes als vorrangiges Ziel, aber heute, nach fast 20 Jahren kann man wohl sagen, daß die Neubauten gegenüber dem traditionellen Stadtbild überwiegen."

Sie finden eine Karte des Geländes auf der Homepage von TIN unter: www.tibetinfo.net/reports/culture/lhasamap.htm

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